Simoun denkt laut.

Die Geschichte von „Das ist nicht normal“

Als ich 2017 den Drang verspürte, eine Band zu gründen, wusste ich noch nicht, dass ich bald Songs schreiben würde, die sich dem gleichen Thema widmen wie die Cartoons, die ich bereits seit 2010 Woche für Woche für eine Zeitung zeichnete – nämlich der nicht normalen Betrachtung Alltagssituationen und dabei vor allem der Kommunikation. Sie ist der rote Faden, der Cartoons, Songs und meine Texte verbindet und sich somit auch durch diesen Blog zieht.

Weil ich einen Song schreiben wollte, setzte ich mich in ein Kaffeehaus in meiner Kleinstadt, denn ich schreibe am liebsten dort, wo ich unter Leuten und doch alleine bin. Mit Block, Kuli und Spritzwein saß ich allein am Vierertisch und schaute in die Luft. Meine Aufmerksamkeit erregten fünf Frauen Ende Fünfzig am Nebentisch, die sich lauthals über eine gemeinsame Arbeitskollegin mokierten.
„Da hätte sie Dienst gehabt und ist einfach nicht erschienen. Dann hat sie angerufen und gesagt, dass sie nicht kommen kann, weil sie Kopfweh hat“, berichtete eine. Alle riefen durcheinander: „Das ist ja nicht normal!“ Auch eine andere wusste zu berichten: „Und letztens ist sie zwar gekommen, ist aber nach zwei Stunden wieder gegangen, weil ihr schlecht war.“ Wieder stimmte die Runde ein: „Das ist ja nicht normal!“ „Nicht normal ist das!“ So ging es den Abend weiter.

Die Frauen am Nebentisch: „Das ist nicht normal.“ „Nicht normal ist das!“ „Nicht normal!“

Nacheinander und durcheinander erinnerten die Frauen an Krankmeldungen und Abwesenheiten, während der Refrain immer aus der Phrase „Das ist ja nicht normal“ bestand. Die Frauen wussten nicht, dass sie mir damit den Refrain für jenen Song geliefert hatten, der zu unserem beliebtesten werden sollte. Denn heute ändern wir unsere Setlist bei jedem Gig, aber „Das ist nicht normal“ spielen wir jedes Mal.

Nun wollte ich meinen Song aber nicht der Arbeitskollegin der Kaffeehausrunde widmen, zumal ich diese ja gar nicht kannte. Mir fiel ein, wie häufig jene Phrase auch im Bezug auf andere Situationen ausgerufen wird. Es war auch ein Standardsatz meines Großvaters, um die Alltagsgestaltung von Familienmitgliedern zu kommentieren.

Weil gerade in dem Augenblick, in dem ich den erlauschten Refrain zu Papier brachte, die Türe des Cafés aufschwang und eine unliebsame Bekannte hereintrat, von der ich hoffte, sie würde mich übersehen, bekam ich auch gleich die erste Strophe geliefert. Auch für die nächsten Strophen brauchte nicht lange nachzudenken, was alles nicht normal ist, sondern nahm die ersten Erlebnisse her, die mir einfielen.

Zum Beispiel ein Kroatien-Urlaub in den 1980er-Jahren mit meiner Familie: Schwärme von Feuerquallen hatten das Meer damals von Zeit zu Zeit orange eingefärbt, doch wir Kinder ließen es uns nicht nehmen, täglich stundenlang im Wasser zu planschen, wenn sich uns wieder einmal so ein Schwarm näherte, sprangen wir eben flink aus dem Wasser.

Aber mein Vater war muffig wegen der Quallen und mied das Meer einige Tage lang. Weil wir Kinder offensichtlich unbeschadet Spaß am Baden hatten, wagte er sich dann doch einmal in die Fluten, schritt vorsichtig im seichten Wasser über die Steine, watete weiter, bis ihm der Meeresspiegel zum Bauch reichte und als er die Füße vom Meeresgrund abstieß, die Beine für die erste Schwimmbewegung schloss, quetschte er eine Feuerqualle zwischen den Knien ein und jaulte auf. Das ist doch wirklich nicht normal.

Papa steigt ins Meer – nur einmal!

Endlos viele Strophen hätte ich dem Song hinzufügen können, denn was gibt es doch nicht alles, was nicht normal ist? Aber ich entschied mich, die Fahrt zu einer Firmen-Weihnachtsfeier zur dritten Strophe zu machen. Dieses Fest fand in irgendeinem Schloss im niederösterreichischen Industrieviertel statt – ich erinnere mich nicht mehr, wie das Schloss hieß, aber ich entsinne mich, dass ein paar von uns eine Blasenentzündung davontrugen – und daran war unser Chauffeur, ein Kollege schuld, der auf eine viel zu frühe Abfahrt bestand. Die Feier sollte um 18 Uhr beginnen, aber der Kollege, mit dem wir alle mitfahren sollten, bestand auf eine Abfahrt von Krems an der Donau um 15 Uhr. Wir waren also beinahe zwei Stunden zu früh beim Schloss und somit die einzigen, die sich in der klirrenden Kälte in eleganten Festtags-Kleidern und hübschen Lackschuhen vor verschlossenem Tor die Beine in den Bauch standen. Das ist doch auch nicht normal, oder?

Noch kein Schwein da – die Tür versperrt, weil sich’s mit Zeitpolster – ach so – stressfrei fährt.

Normal, aber nicht unbedingt gut
Ich resümiere also: Auch wenn das Adjektiv „normal“ streng genommen aussagt, dass etwas der Norm entspräche, so verwenden wir es meistens im Sinn von „gut“.
„Normal“ sei demnach gut und „nicht normal“ sei schlecht.
Im Bauwesen gibt es zum Beispiel die Ö-Norm, die dafür sorgt, dass nach Vorschrift und somit normal – also funktionstüchtig – gebaut wird. Und im gesellschaftlichen Leben gibt es Normen, Regeln, Sitten, die ein reibungsloses Zusammenleben garantieren sollen. Was nicht normal ist, sorgt für Spannungen.
Dennoch will ich kein Loblied auf das Normale singen, denn im Laufe der Jahrhunderte sind schon viele Normen obsolet geworden. Mehr noch: Ihre Beibehaltung hätte sogar den Fortschritt gehemmt. Nicht auszudenken, wenn wir heute noch die gesellschaftlichen Normen der Antike hätten.

Wenn Gesetze „normal“ neu definieren
Vor der Arbeiterbewegung waren gesundheitsschädliche 16-Stunden-Arbeitstage zu extrem niedrigen Löhnen normal. Soziale Absicherung war nicht normal.
Vor 1918 war es normal, dass Frauen kein Wahlrecht hatten. (Gilt für Österreich, in anderen Ländern ist Wahlrecht jetzt noch nicht normal.)
Vor 1977 war es normal, dass die Frau die Erlaubnis ihres Mannes brauchte, um einen Job anzunehmen. Ich höre von älteren Frauen, dass es bis dahin für Frauen nicht einmal normal war, sich alleine in ein Café zu setzen. (Das ist in Österreich schon normal, anderswo noch nicht.)
Vor 1997 war es normal, dass Vergewaltigung in der Ehe kein Strafbestand war. (Leider ist Gewalt für eine zu große Anzahl an Menschen normal.)
Vor 2006 war es nicht normal, dass Stalking (Beharrliche Verfolgung) strafrechtlich geahndet werden konnte.

Von „normal“ zu „nicht normal“
Jede Gesetzesänderung sorgte dafür, dass aus einem „normal“ ein „nicht normal“ wurde. Jeder Pionier, jeder Vordenker seiner Zeit war in seinem jeweiligen Kontext wahrscheinlich „nicht normal“ und letztendlich mitunter doch gut. Es soll Menschen geben, die sich beleidigt fühlen, wenn man sie „normal“ nennt, andere ärgern sich, wenn man sie als „nicht normal“ bezeichnet. Darum appelliere ich, einen etwas kritischeren Blick auf das Adjektiv „normal“ zu werfen und es nicht vorbehaltlos synonym mit „gut“ zu nutzen.

Aber jetzt zum Song „Das ist nicht normal“:

Ich sitz im Café unter Leuten, doch allein.
Da schwingt die Tür auf, wer kommt herein?
Die Person, auf deren Gesicht
Ich am allerliebsten verzicht’.
Bevor ich die Chance zum Flüchten krieg,
Setzt sie sich her und lächelt lieb.

Das ist nicht normal.
Nicht normal ist das – normal – ist nicht normal.
Das ist nicht normal.
Nicht normal ist das – normal – ist nicht normal.

Quallenalarm am Meer im Urlaubsort,
Doch ich spüle meine Ängste fort –
Bade täglich sieben Stund,
Werd nie erwischt und bleib gesund.
Papa steigt ins Meer nur einmal,
Wird prompt erwischt, erleidet Qual.

Das ist nicht normal.
Nicht normal ist das – normal – ist nicht normal.
Das ist nicht normal.
Nicht normal ist das – normal – ist nicht normal.

Ich und die Kollegen fahren auf Termin,
Laut Navi brauchen wir 30 Minuten dort hin.
Drei Stund’ früher zitiert der Fahrer uns zum Start,
Damit ich noch der Ankunft ewig wart’.
Noch kein Schwein da, die Tür versperrt,
Weil sich’s mit Zeitpolster – ach so – stressfrei fährt.

Das ist nicht normal.
Nicht normal ist das – normal – ist nicht normal.
Das ist nicht normal.
Nicht normal ist das – normal – ist nicht normal.

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